Fischerboote wiegen sich im Wind. Menschen flanieren am Hafen. Und Möwen hoffen auf ein Stück vom Fang. Unweit von Amsterdam liegt das malerische Volendam am Markermeer. Das kleine Fischerdorf zieht Touristen aus aller Welt an. Doch hinter den bunten Holzfassaden verbergen sich Tragödien, von denen die meisten Besucher nichts ahnen. Nach langem Schweigen werden sie jetzt öffentlich gemacht und lassen niemanden kalt.
Volendam am Markermeer – eine katholische Enklave
Volendam war lange eine katholische Insel in einem protestantischen Meer. Als die Niederlande zum protestantischen Glauben übertraten – im 17. Jahrhundert wurde der Calvinismus zur vorherrschenden Religion – blieb Volendam Rom treu. Heute reagieren die meisten Menschen in Europa mit einem Schulterzucken auf die Konfessionsfrage, aber in früheren Jahrhunderten war es das alles bestimmende Thema. Durch die Papsttreue entstanden in Volendam viele Probleme, die unsägliches Leid über die Menschen brachten. Erzählt wird ihre dramatische Geschichte in der „Expierence Volendam“.
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Innovatives Konzept in Volendam am Markermeer
„Expierence Volendam“ ist viel mehr als ein Museum – es ist eine interaktive Erlebniswelt. Dass es diese hochmoderne Technik im kleinen Volendam gibt, ist zwei niederländischen Startups zu verdanken: Die Firmen suchten einen Ort, wo sie ihre innovative Kinotechnik vorführen konnten. Und Volendam, einer der meistbesuchten Orte in den Niederlanden, passte den Marketing-Strategen ins Konzept. Sie stellten die Mittel zur Verfügung und die Bewohner nutzten den unerwarteten Geldregen, um die dramatische Geschichte des Ortes zu erzählen.
Vor den Türen der Erlebniswelt wird fangfrischer Fisch verkauft, ein Reiher stakt umher und die Menschen sitzen unbeschwert in der Sonne. Doch sobald sie das „Expierence Volendam“ betreten, ändert sich die Sicht auf das idyllische Fischerdorf. Denn hier kann jeder Besucher hautnah erleben, was die Bevölkerung von Volendem durchmachen musste.
Eintritt in die Dunkelheit
Winzige Bettkästen sind übereinandergestapelt. Ein Wassereimer mit Schöpfkelle ersetzt das Badezimmer. Und über der Feuerstelle steht angeschlagenes Geschirr in einem Regal – die isolierten Katholiken von Volendam lebten in sehr einfachen Verhältnissen, berichtet Museumsführerin Karina Butter. Sie ist groß, schlank und strohblond. Eine typische Holländerin, die perfekt Englisch spricht und viel lacht. Mit der blau-weißen Tracht und den wuchtigen Holzschuhen erinnert sie ein bisschen an Frau Antje aus der Käse-Werbung. Die folkloristische Aufmachung macht ihre Erzählungen umso verstörender.
Angeordneter Inzest in Volendam am Markermeer
Um die letzten holländischen Gläubigen bei der Stange zu halten, griff die katholische Kirche zu extremen Mitteln. Um 1905 kam ein Pastor nach Volendam, der alles dransetzte, die geschlossene katholische Gemeinschaft zu erhalten. Er verbot Ehen mit Protestanten aus dem Umland und stiftete die Bewohner an, nur untereinander zu heiraten.
Der über Jahrzehnte praktizierte Inzest gipfelte in Gen-Defekten. In Volendam entwickelten sich Krankheiten, die es nur hier gibt. Eine Erbkrankheit heißt „pontocerebelläre Hypoplasie“, kurz PCH. Sie bricht nur aus, wenn beide Elternteile die Veranlagung vererben. Ihre Kinder kommen dann mit unterentwickelten Gehirnen zur Welt. Haben schwerste mentale und körperliche Defizite und sterben früh.
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Geschichte zum Greifen
Während Karina Butter erzählt, führt sie die Besucher durch das Museum. In den Eingangsbereich der Erlebniswelt dringt geballtes Tageslicht. Und auch die Geräusche der belebten Straße. Doch als sie die schwere Holztür zur Ausstellung schließt, wird es dunkel und ganz still. Die Museumsführerin erzählt von ihrer Großmutter, die 21-mal schwanger wurde. Allerdings überlebten nur acht Kinder, die anderen 14 starben. Doch nicht alle an der Erbkrankheit, von der die Dorfbewohner damals noch nichts ahnten. Mehrere Kinder ertranken, wie Karina Butter berichtet. Denn niemand in dem Küstenort konnte schwimmen. Auch das verdanken die Bewohner von Volendam ihren katholischen Geistlichen.
Niemand durfte schwimmen lernen
Karina Butter vergleicht die damalige Situation in Volendam mit der heutigen in einigen muslimischen Staaten. Was wir als rückständig kritisieren, war noch vor nicht allzu langer Zeit gängige Praxis in konservativen katholischen Gesellschaften. So war es in Volendam damals verboten, die Kleidung auszuziehen. „Wenn ihr eure Kleidung auszieht, begeht ihr eine Sünde“ – predigten die Geistlichen.
Aber um schwimmen zu lernen, muss man seine Kleidung ausziehen. Deshalb konnte niemand in Volendam schwimmen, in einem Küstenort, der unter Meeresniveau liegt. Die Menschen arbeiteten auf dem Wasser und ertranken in ihm. Einer ihrer Onkel, sagt Karina Butter, ertrank mit fünfeinhalb. Und niemand eilte dem Jungen zur Hilfe, weil die Retter dann selbst ertrunken wären.
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Katholische Kleidervorschriften
Der Einfluss der katholischen Kirche erstreckte sich auf alle Lebensbereiche. Auch über die Garderobe entschieden die Geistlichen. Insbesondere, was die weibliche Kleidung anbetraf. Die Frauen in Volendam trugen schwarze Hauben. 24 Stunden am Tag. Auch nachts. Deshalb hatten die meisten von ihnen kaum noch Haare. Wegen des Sauerstoffmangels unter den Hauben. Und weil sie natürlich Läuse hatten, rasierten sie sich die restlichen Haare auch noch ab. Nur vorne ließen sie eine Strähne rausschauen, damit es so aussah, als hätten sie Haare.
Auf historischen Schwarzweiß-Fotos sind die Frauen zu sehen. Die Gesichter unter den schwarzen Hauben blicken ein wenig unsicher in die Kamera. Auch alte Passfotos hängen in der Ausstellung von „Expierence Volendam“. Das historische Volenam auf den Fotos gleicht dem modernen Volendam.
Bis 1940 war Volendam am Markermeer ein mittelalterlicher Ort. Das erste Badehaus eröffnete hier 1954. Die Großmutter von Karina Butter duschte 1974 zum ersten Mal.
Die neueste Kino-Innovation
Eine Holztreppe führt ins Untergeschoss des Museums. Musik, Meeresrauschen und Möwengeschrei dringt aus unsichtbaren Lautsprechern. Dazu ein paar Anweisungen. Ihnen folgend klettern die Besucher über knarrende Holzbänke und steigen in ein offenes Ruderboot. Vor jedem Sitzplatz liegt ein kleiner, schwarzer Kasten: sogenannte Virtually reality-Brillen – die neueste Kino-Innovation. Wer sie aufsetzt, sieht den Film nicht nur in einen 360 Grad Rundumblick, sondern hat das Gefühl, tatsächlich im Film zu sein.
Der Film erinnert an eine Hollywood-Produktion und zeigt wie Volendam 1916 von einer Sturmflut heimgesucht wird. Das Meer dringt in die kleinen, bunten Häuschen ein. Und ein junger Fischer sucht verzweifelt nach seiner Geliebten. Am Ende des Films kann er sie dann in die Arme schließen. So glücklich wie im Film enden allerdings nicht alle Liebesgeschichten in Volendam. Karina Butter, die sich selbst als Atheistin bezeichnet, hat weder geheiratet, noch Kinder bekommen.
Carlo meint
Trifft man auf dieses idyllische Städtchen mit seinen zauberhaften Fassaden, dann bekommt man gleich Fernweh. Liest man jedoch die Geschichte dahinter, da kommt man doch schon ans Nachdenken. Ist es heute überhaupt erlaubt dort zu schwimmen?